Von Ehen, Affären und Körperschicksalen

In seinem neuen, großen Roman „Die Liebe in groben Zügen“ erzählt Bodo Kirchhoff von einem alten Paar, von der Sehnsucht, von der Intimität, die jeder sich bewahren muss – und davon, dass es eine große Leistung ist, überhaupt zusammenzubleiben.

Fangen wir mit den Äußerlichkeiten an: Wir sitzen hier in Ihrer Arbeitswohnung in Frankfurt-Sachsenhausen. Die Schadowstraße, in der Ihre Hauptpersonen leben, ist nicht weit entfernt, ebenso die Schweizer Straße, – unter anderem Handlungsorte Ihres neuen Romans. Man darf ja davon ausgehen, dass das nicht so ist, weil Ihnen nichts Anderes eingefallen ist...

Ich habe diese Nähe gebraucht, um das Buch auch sozial genau situieren zu können. Ich wollte einen Rahmen haben, den ich sehr genau kenne, um dann bei den Personen frei zu sein. Ich glaube auch nicht, dass man Landschaften erfinden kann. Wenn man das versucht, landet man in der Fantasy-Literatur. Ich kenne die Landschaft am Gardasee, die im Roman eine wichtige Rolle spielt, bis ins Detail. Ich bin voll davon, ebenso von der Realität eines Hauses dort oder des Autos, das Renz fährt. All das ist aber im Roman viel mehr in die Jahre gekommen, der Roman ist eine Hochrechnung meines eigenen Lebens, dessen Brüche ich kenne.

Das bedeutet doch aber nicht, dass nicht auch die Figuren nahe an Ihnen wären?

Die Figuren sind von ihren Empfindungen selbstverständlich dicht an mir dran, wobei ich mich weniger in der Figur des Ehemannes Renz wiedererkenne als in der des ausweichenden Liebhabers Bühl, also jenes Mannes, der das Sommerhaus am Gardasee über den Winter hüten soll und in den Vila, Renz' Frau, sich verliebt und den sie dazu bringen will, Farbe zu bekennen.

Es gibt ziemlich zu Beginn des Romans den Satz „Alte Paare sind Archive, weh dem, der sie öffnet.“ Das ist das Prinzip, das dem Buch zugrunde liegt: Sie öffnen das Archiv mit allen Konsequenzen.

Ja, was sonst. In jenem Strang des Romans, in dem es um Franz von Assisi und Klara geht, heißt es: "Wir beide sind ein Kästlein, das besser zubleibt." Ich habe dieses Kästlein und die Archive geöffnet, wobei mir am Anfang wirklich nicht klar war, wohin das führen wird. Ich wusste nur, dass ich es tun muss. Und dass ich mich dem, was passiert, vollkommen überlassen muss. Ich habe in den vergangenen Jahren sieben Fassungen des Romans geschrieben und habe jeweils immer mit dem, was in der letzten Fassung herauskam, weitergearbeitet.

Es gab also keinen, wie es im modernen Fußball heißt, Matchplan?

Nein. Wenn ich mir den vorher gemacht hätte, hätte ich gedacht: Das kannst Du gar nicht schreiben. Das geht nur, wenn man nicht weiß, was auf einen zukommt.

Und waren Sie manchmal über sich selbst erstaunt oder erschrocken? Es heißt ja immerhin "Weh dem…"

Ja, das war ich. Meine Frau hat ja schon frühere Fassungen gelesen und fand den Text nicht schmerzlich genug. Sie hat mich zu der Radikalität der Darstellung dieser Ehe immer wieder gedrängt. Wir beide haben, wie das Paar Vila und Renz im Roman auch, die Erfahrung gemacht, dass es, obwohl man sich sehr lange kennt, einen Bereich gibt, in dem der Andere für sich sein muss; dass jeder sein Intimes hat, in dem der Lebenspartner nichts verloren hat. Das bringt einen Gewinn an Freiheit mit sich, gleichzeitig ist man dann aber auch mit seinem Wissen allein.

Das ist die harte Dichotomie, die "Die Liebe in groben Zügen" beschreibt: Dass man all das, was das Paar in dieser Ehe tut, mit anderen Frauen, mit anderen Männern, nur deshalb so tun kann, weil man weiß, dass es den anderen gibt. Ist auch das eine Erkenntnis, die Sie beim Schreiben hatten.

Sagen wir so: Das hatte ich vorher schon geahnt, aber so noch nicht erzählt.  Es ist ja beinahe so, dass in der Beziehung zwischen Vila und Renz der eine jeweils die Räuberleiter für den anderen macht. Sie lieben jeweils fremd, wenn man das so sagen kann, indem sei auf den Schultern des anderen stehen. Für Vila gilt dieser Satz, dass die Liebe die Karriere der Frauen ist, wobei ich das Wort nicht in einem beruflichen Sinne meine. Das ist eine Karriere nach innen, ein Eindringen in die Dinge, wodurch man für sich selbst vorankommt.

Als ich den Satz las, wusste ich, dass er Anstoß erregen würde. Prompt liest man in Rezensionen solche Worte wie "Frauenfeindlichkeit". Es gibt noch andere Sätze ähnlicher Art. War Ihnen das bewusst?

Ich lebe jetzt seit 33 Jahren vom Schreiben. Und ich habe mir nie überlegt, was andere darüber sagen könnten oder würden. Meine ersten Bücher haben mir eine Art von Vorstrafenregister eingebracht. Das hat meine Arbeit einerseits sehr erschwert. Es hat aber andererseits Bücher hervorgebracht, die ich sonst niemals hätte schreiben können.

Erstaunt es Sie nicht, dass gerade angesichts von "Die Liebe in groben Zügen" der Vorwurf des Kraftmeiertums und Machotums erneut an Sie gerichtet wird?

Das ist völlig lächerlich. Aus dem Buch selbst spricht vielleicht eine ungeheure Kraftanstrengung, die bei der Lektüre spürbar wird. Im Buch selbst gibt es, wenn man genau liest, dafür keinerlei Veranlassung. Selbst das Auto, der Jaguar, den Renz fährt und über den so viel geschrieben wurde, steht in einem ironischen Zusammenhang. Es ist zu groß für ihn, zu protzig, und er weiß das sogar. Wenn man das nicht mitlesen will, dann kommt man nicht an den Kern heran. Menschen nach ihrem Äußeren und ihren Attributen zu beurteilen – das nennt man in anderen Zusammenhängen Fremdenfeindlichkeit.

Aber bleiben wir doch beim Lebenswandel der Figuren, der mir vollkommen schlüssig erscheint: Da ist ein Paar, sie Anfang 50, er Anfang 60. Beide arbeiten für die Medien, haben sich einen gewissen Lebensstandard geschaffen, eine gemeinsame Geschichte aufgebaut – aus einem solchen Milieu heraus zu erzählen, sollte doch erlaubt sein.

Selbstverständlich! Denken Sie an große amerikanische Romane, die sich dem Eheleben widmen. Denken Sie an James Salters "Lichtjahre". Meine Protagonisten sind ja nicht mehr 30. Das Problem der deutschen Gegenwartsliteratur ist unter anderem, dass zu viele Romane von 30jährigen für 30jährige geschrieben werden. Ich habe auch vor 30 Jahren ganz anders geschrieben. Davon abgesehen sind das nicht nur Äußerlichkeiten. Es ist doch für einen Roman von Bedeutung, in welchem Milieu, in welchem sozialen Umfeld eine Beziehung sich abspielt. Das ist ein Teil von deren Leben, aber es erschöpft sich doch nicht darin.

Vila und Renz sind seit fast 30 Jahren verheiratet. Sie haben eine Tochter. Und trotzdem ist es, wie Sie sagen: Jeder hat einen ganz großen Bereich, in dem er mit und für sich allein ist. Ist das eine Erkenntnis, die Sie allgemein im Hinblick auf Beziehungen formulieren würden?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Einerseits die komplette Symbiose, in der die Sehnsucht aufgehoben ist. Das andere Modell ist das, von dem ich erzähle: Der Partner ist ein riesiger Teil der Lebenszeit des anderen. Und sich davon zu trennen, würde bedeuten, auch einen Teil des eigenen Lebens rückwirkend zu vernichten. Wenn man sich trennt, trennt man sich auch von sich selbst. Man ist verzahnt, aber nicht symbiotisch verzahnt. Solche Menschen können eine lang andauernde Beziehung nur dadurch aushalten, indem sie ihren Bereich bewahren, in den der andere nicht vordringt. Das hat auch damit zu tun, dass man seine eigenen Grenzen kennt.

Und das hat auch mit dem Begriff der Sehnsucht zu tun, richtig?

Gewiss. Wenn man so lange zusammen ist, richtet sich die Sehnsucht nicht mehr auf den eigenen Partner. Aber sie ist ja trotzdem da. Man braucht etwas außerhalb. Darum war es für mich auch so wichtig, das Paar Franz von Assisi und Klara in den Roman einzuführen; eine Geschichte, die 800 Jahre zurückliegt. Im Roman ist es Bühl, der an einem Buch über die beiden arbeitet. Auch das war eine lebenslange Sehnsuchtsbeziehung, in der sich die Sehnsucht an einen Menschen gerichtet hat, der anwesend abwesend war, weil er mit etwas Überirdischem verbunden war. Und diese Sehnsuchtsbeziehung war etwas, wofür ich eine eigene Sprache finden musste.

Ähnlich verhält es sich doch aber auch bei Vila und dem zehn Jahre jüngeren Bühl, der ja auch nicht greifbar ist.

Bühl ist ein Versehrter. Er hat Dinge in seiner Jugend erlebt, die ihn geprägt haben. Er ist Leidtragender einer zu frühen Liebeserfahrung. Das hat ihn, wie es im Roman erzählt wird, unfähig gemacht dauerhaft zu lieben.

Vila stürzt sich mit allem, was sie hat, in das Verhältnis zu Bühl. Die Parallelgeschichte dazu ist die zwischen Renz und Marlies, einer TV-Produzentin, die aber einen ganz anderen Verlauf nimmt...

Diese Geschichte sollte ursprünglich eine von Renz’ normalen Affären werden. Aber plötzlich vertraut Marlies sich Renz an und erklärt ihm, dass sie todkrank sei. So bekam das eine neue Qualität.

Renz begleitet Marlies bis in die Sterbeklinik, bis in den Tod hinein.

Ja, und das ist dann keine normale Affäre mehr. Da kommt die Übernahme von Verantwortung ins Spiel, und das ist etwas, was Vila spürt. In dem, was Renz da macht, eröffnet sich etwas für sie. Der Tod spielt ja noch in einem anderen Zusammenhang eine Rolle, nämlich bei dem Hund, der für Vila und Renz eine Art von Sohnersatz war und durch Renz' Schuld in Assisi überfahren wurde. Vila kann ihm das in den Tagen danach verzeihen. Es ist ein Beispiel dafür, wie sich in der Beziehung immer wieder Räume öffnen, die der andere betreten kann, Räume für das Wiederaufleben von Liebe.

 

 

 

Vila hat im Alter von 43 Jahren eine Abtreibung hinter sich gebracht. Inwiefern ist diese Abtreibung von Bedeutung für die Beziehung der beiden?

Im Roman ist sie entscheidend, weil dieser Entschluss Vila zehn Jahre später auf die Reise nach Havanna schickt. Sie fährt der schwangeren Tochter hinterher, weil sie spürt, dass die Tochter das Kind gar nicht haben will.

Gibt es da aber nicht noch eine weiterreichende Bedeutung? Ich habe den Eindruck, dass langjährige Beziehungen sich eben nicht mehr durch Leidenschaft am Leben halten, sondern durch gemeinsame Projekte. Das abgetriebene Kind wäre ein nicht realisiertes Projekt, eine vertane Chance.

Ja, dahinter steckt der gemeinsame Wunsch, gemeinsam noch etwas Schönes zu wollen. Die Liebe ist nicht das Schöne, sie sucht das Schöne. Und gemeinsam noch etwas zu wollen, ist ein Projekt. Das können auch kleine Dinge sein. Aber im Roman ist es doch recht signifikant: Was tun Vila und Renz in dem Augenblick, in dem sie erfahren, dass sie nicht Großeltern werden? Sie verlieben sich beide, Vila in Bühl, Renz in Marlies.

Der erste Satz des Romans lautet: "Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann sogar gemeinsam." Schon darin steckt der Faktor Zeit. Sie unternehmen viele Anläufe, zu beschreiben, was Liebe ist. Aber wenn man ein Fazit ziehen könnte, wäre es dann nicht, dass es eine Riesenleistung ist, nach langer Zeit überhaupt noch als Paar zu existieren?

Es ist deshalb eine so große Leistung, weil wir in Mitteleuropa in einer Zeit leben, in der nichts mehr auf Dauer angelegt ist. Wir sind auf Schnelligkeit trainiert, auf Abwechslung. Sich auf einen Menschen einzulassen, mit allen Risiken, sich auf dieser Basis auf eine Lebensgemeinschaft einzulassen – das ist doch eine ungeheuerliche Leistung. Und dazu noch die verschlossenen Bereiche, über die wir vorhin sprachen, auszuhalten. Das widerspricht vollkommen dem merkwürdigen Ideal der 70er-Jahre von größtmöglicher oder menschenmöglicher Transparenz. Das habe ich selbst eine Zeitlang praktiziert. Aber daran geglaubt habe ich nicht. Irgendwann stand man so nackt voreinander, dass es der einzige Ausweg war, sich schnell zu entfernen.

Sie sind, das ist ein erzählerisches Ungleichgewicht, Vila sehr viel näher als Renz. Warum?

Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass ich mich mit Frauen besser auskenne als mit Männern. Vila ist die Figur, von der ich am meisten wiedergeben konnte. Sie ist diejenige, bei der mich am meisten interessiert hat: Wie gerät sie dort hinein? Wie geht sie mit ihrem Liebeskummer um? Sie ist diejenige, die an den Stellschrauben dreht; die immer mehr will und den Bogen immer weiter spannt.

Ich könnte allerdings nicht behaupten, dass diese Vila eine mir jederzeit angenehme Person sei. Wie geht es Ihnen?

Das ist schon richtig. Vila ist relativ rücksichtslos in ihrer Liebe. Aber in der Liebe ist man nicht stark und heroisch wie Romeo und Julia bei Shakespeare, man driftet auch selten ins Metaphysische wie Tristan und Isolde. Man ist verdammt, man ist schwach, am ehesten noch dem Ur-Paar Adam und Eva verwandt. Vilas Liebe zu Bühl folgt einer jeder Gegenwehr ausschließenden Schwäche für das Andere, Fremde, Unangreifbare in Bühl. Und ich bin überzeugt davon, dass es die Aufgabe der Literatur ist, von diesem Anderen im Anderen zu erzählen, das kann kein sonstiges Medium besser.

Das Gefühl der Schwäche manifestiert sich auch in Brutalität. Es gibt eine Szene zwischen Vila und Renz, in der sie ihm die Sonnenbrille vom Kopf schlägt. Sie blickt nach unten, sieht, dass es seine Lieblingssonnenbrille ist, und dann heißt es: "Also trat sie mit dem Fußballen auf einen der Bügel." In diesem "also" steckt sehr viel von dieser Beziehung.

Ja, die Bereitschaft, dem anderen wehzutun. Die Bereitschaft, seinen Gegenüber ins Herz zu treffen, um ihn überhaupt zu treffen. Ihm ins Gesicht zu schlagen, hat in diesem Augenblick nicht gereicht. Der Schlag vergeht schnell. Die zertretene Lieblingsbrille nicht. Und damit zeigt sie natürlich auch: Ich kann dir etwas nehmen, an dem du hängst. Das ist eine Mischung aus Gewalt- und Risikobereitschaft, die in dieser Szene aufscheint.

Die Bühl-Figur bleibt im Roman die undurchdringlichste und in ihren Handlungen am wenigsten zu begreifende. Wie und wann kam diese Figur ins Spiel?

Die erste Fassung von "Die Liebe in groben Zügen" war aus der Ich-Perspektive von Bühl geschrieben. Ich habe schnell gemerkt, dass das nicht funktioniert. Danach habe ich die Bühl-Figur strikter angelegt. Sie muss sich durch etwas darstellen, an dem sie arbeitet. Und dann kam Franz von Assisi ins Spiel, der mich ohnehin immer schon beschäftigt hat. Bühl hat sich von Fassung zu Fassung weiterentwickelt und bleibt in seinem Kern dennoch im Dunkeln.

Durch das Buch läuft ein Desillusionierungsprozess: Bühl ist nicht derjenige, kann nicht derjenige sein, den Vila in ihm sieht.

Ich halte nichts von karthatischen Dingen. So etwas muss sich in Schritten vollziehen, es muss immer wieder neu wehtun.

Die Bühl-Figur schlägt auch wiederum die Brücke zu ihrer eigenen Biografie. Bühl hat ein Schicksal. Sie haben ihn vorhin als Leidtragenden bezeichnet. Gemeinhin würde man sagen, er ist in seiner Jugend in einem Internat am Bodensee von einem Lehrer missbraucht worden. Das Wort benutzen Sie nicht.

Bühl war zwölf Jahre alt. Dieser Lehrer war ein Idol, er war Elternersatz. Und Bühl ist ein sehr physischer Mensch. Diese Sache war auch eine Kraftprobe. Irgendwann hat er diese Kraftprobe ja auch gewonnen. Für mich ist das auch eine Form der Liebe, weil es etwas Gegenseitiges hat. Selbstverständlich war Bühl im herkömmlichen Sinne ein Opfer. Aber es gibt Formen von so genanntem Missbrauch, die für mich Grenzfälle sind. Da gab es sicherlich auch von Bühls Seite Momente von Liebe, die aber ausgenutzt wurden.

Hat es Sie irritiert, dass Ihre Art und Weise, über das Thema zu sprechen, so radikal abgelehnt wird?

Es gibt eine vorgegebene Rhetorik. Der Diskurs stand von Beginn an fest, und der verlief nach dem starren "Tatort"-Motto: Wer hat es getan? Und wie kann man es sühnen? Aufklärung ist das nicht. Aufklärung wäre, zu verstehen, was da wirklich passiert ist.

Für Sie bedeutet Aufklärung auch Selbstaufklärung des Opfers. Und das ist gemeinhin inakzeptabel.

Wenn man über so etwas redet, muss man erst einmal Selbstanzeige erstatten und den Finger auf sich selbst richten. Man muss differenziert an so etwas herangehen. Für Platon gab es nur Liebesobjekte, keine Liebesbeziehung. Dieser Gedanke wird in einer Diskussion restlos ausgeblendet. Was aus dem Rahmen der politischen Korrektheit fällt, wird ausgeblendet. Man muss doch unterscheiden zwischen einer Vergewaltigung und einem Vorgang, der körperlich relativ harmlos ist, aber seelisch ungeheure Konsequenzen hat.

Sie sprechen heute sehr offen über ihre eigene Geschichte. Und sie begründen damit ihre eigene Poetik.

Einen Teil davon. Ich glaube, dass eine Erfahrung wie diese nur der Teil dessen ist, was man ein sexuelles Schicksal, ein Körperschicksal nennen könnte. Das wiederum hat damit zu tun, wie man als Kind ist, in welcher Umgebung man aufgewachsen ist. Das, was ich zwischen elf und vierzehn erlebt habe, war nur ein großer Mosaikstein. Meine Körpergeschichte begann früher. Meine Sexualität geht auf Verschiedenstes zurück, nicht auf ein Urerlebnis.

Es gibt eine Szene, in der Bühl vor dem Fernseher sitzt und eine Talkshow betrachtet, in der ein Schriftsteller dafür abgewatscht wird, dass er in diesem Zusammenhang das Wort "Liebe" verwendet. Dieser Schriftsteller sind Sie. Die Talkshow hat es tatsächlich gegeben.

Das stimmt. Da habe ich mir im Roman einen kleinen, Hitchcock-ähnlichen-Auftritt verschafft.

Christoph Schröder
VOLLTEXT 03/2012

Verwendung des Interviews mit freundlicher Genehmigung des Autors